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Wie viel privates Kapital verträgt der niedergelassene Bereich?

Immer mehr Investoren interessieren sich für Arztpraxen. Was einerseits positiv ist, weil es den Digitalisierungsgrad steigert, ist andererseits mit einer gewissen Skepsis zu beobachten. Welchen Weg wollen wir für die medizinische (Grund)Versorgung in Deutschland gehen?

DAS Thema für Quo Vadis Digital Health im April zu finden, war schwer – wie eigentlich immer, wenn die Auswahl zu groß ist. Und die Entscheidung mag den ein oder anderen vielleicht sogar überraschen. Mich haben tatsächlich viele Themen in diesem Monat beschäftigt, gefühlt hatte er nämlich Themen für drei. Was sich aber immer wieder zurück in mein Gedankenkarussell gedrängt hat, war die Recherche eines Reporter-Teams von NDR und Bayrischem Rundfunk. Danach sind über 500 Augenarzt-Praxen mittlerweile im Besitz von internationalen Finanzinvestoren. Eine Zahl, die sich innerhalb von drei Jahren verdreifacht hat. Mit dem plakativen Ausspruch „Gewerbe Augenheilkunde“ wird eine Augenärztin dort zitiert.

Der Grund, warum sich diese Reportage immer wieder Raum in meinen Gedanken schafft, ist simpel: Ich weiß nicht, ob ich das Investorenengagement gut oder schlecht finden soll. Auf meiner imaginären Pro-Liste finden sich Argumente wie „Wir brauchen Kapital, mangelndes Engagement von Investoren ist einer der Gründe, warum die USA oder Asien als Regionen die Nase vorn haben“. Und dann frage ich mich, wie ich es als Arzt wohl finden würde, wenn mein zuständiger Controller mich mit den Worten „Admir, du hattest in diesem Monat zu wenige Herzinfarktpatienten“ ermahnt, im nächsten Monat besser zu werden.

Das Für und Wider ist so natürlich sehr plakativ und deutlich verkürzt dargestellt. Die Frage, ob und in welchem Ausmaß wir private Kapitalgeber im Gesundheitswesen wollen, ist aus meiner Sicht aber eine ganz entscheidende, weil sie die Richtung bestimmt, in die wir uns in Zukunft bewegen wollen.

Warum privates Kapital gut ist

Lassen Sie uns für einen Moment die Humanmedizin verlassen und uns um das Tierwesen kümmern. Denn dort haben private Investoren längst die Gunst der Stunde erkannt. Von großen, internationalen Klinikketten bis hin zu kleineren GmbHs, die gezielt regional Tierarztpraxen aufkaufen, ist alles dabei. Und das findet niemand verwerflich, schließlich spielt im Heimtiermarkt ohnehin viel Musik. Viel entscheidender ist jedoch: Es gibt keine Solidargemeinschaft, die für die Kosten aufkommt. Entsprechend positiv wird das Engagement der Investoren bewertet: Die meist ländlichen Praxen haben durch die Einkaufsstärke der Gemeinschaft Zugang zu einer deutlich besseren Ausstattung, das „Back Office“ kann übergeordnet organisiert werden, was für Entlastung sorgt, und die Tierärztinnen und Tierärzte tauschen unternehmerisches Risiko gegen ein gutes Gehalt sowie einen Abschlag für den Kundenstamm – sofern sie denn entsprechend verhandelt haben.

Aber auch in der Humanmedizin zeigt das Engagement von Investoren ökonomische Vorteile. Die bereits erwähnte Reportage zitiert eine Untersuchung des IGES Instituts im Auftrag der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern (KVB). Die Forscher analysierten Daten aus Arztpraxen von sieben verschiedenen Fachrichtungen in Bayern aus den Jahren 2018 und 2019 und kamen zu dem Ergebnis: Praxen, die Finanzinvestoren gehören, haben ein um zehn Prozent höheres abgerechnetes Honorar pro Behandlungsfall als eine Einzelpraxis – bei gleicher Patientencharakteristik. Die höheren Honorare sind laut der Studie “allein auf das Merkmal der Eigentümerschaft zurückzuführen”. Die Autoren sehen damit die Ergebnisse als Beleg für die These, dass sich Praxen, die Finanzinvestoren gehören, stärker an ökonomischen Motiven ausrichten.

Warum privates Kapital schlecht ist 

Und genau das ist auch das Gegenargument. Denn was monetär positiv ist, kann aus ethischen Gesichtspunkten mitunter fraglich sein. Es drängt sich direkt wieder das Bild des Controllers auf. In einer Tierarztpraxis ist es vielleicht ethisch noch vertretbar, wenn die Tierärztin oder den Tierarzt ermahnt wird, die Kastrationsquote im kommenden Monat wieder zu erhöhen. In der Humanmedizin sind solche zahlengetriebenen Optimierungen indiskutabel. Egal, ob es nach Meinung des Controllings zu wenig Herzinfarktpatienten, Knie- und Hüft-OPs oder Zahnimplantate in einem Monat gab. In der Medizin sollte der Grundsatz gelten: Jeder nicht-behandelte Patienten, ist ein guter Patient, sofern er oder sie denn gesund ist.

Was außerdem aufstößt: Eigentlich ist in Deutschland klar und streng geregelt, wer eine Praxis eröffnen und wer investieren darf. Ohne Approbation darf ich in Deutschland nicht einfach eine Praxis eröffnen oder betreiben – durch die Hintertür als Investor hingegen schon. Hier gibt es aus meiner Sicht Nachbesserungsbedarf und vor allem gilt es, klare, einheitlich Spielregeln zu schaffen.

Ja, nein, vielleicht? 

Ich bin übrigens nicht der Einzige, der bei der Investorenfrage noch unentschlossen ist – das zeigt eine kleine, von mir gestartete, nicht repräsentative Umfrage hier auf LinkedIn. Ich habe gefragt, ob eine Digitalisierung, respektive Professionalisierung des niedergelassenen Sektors internationale Investoren braucht. 23 Prozent waren der Meinung „Heuschrecken? Nein Danke!“, 28 Prozent sagen, dass es für den internationalen Anschluss einen hohen Kapitalbedarf gibt, dem wiederum 28 Prozent zustimmen, aber den Bedarf nicht mit Investorengeldern decken wollen und 21 Prozent sagen, Gesundheit geht nur als Gemeinschaftsleistung.

Braucht die Digitalisierung/Professionalisierung des niedergelassenen Sektors internationale Investoren?

Philipp Köbe, freiberuflicher Dozent und Unternehmensberater im Gesundheitswesen, hat dazu im kma-Entscheiderblog einen interessanten Beitrag geschrieben und zusätzlich auch sein Netzwerk auf LinkedIn und Twitter befragt – mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Auf LinkedIn fragte er, welche Akteure aus Solidargemeinschaft finanzierte Leistungen im Gesundheitswesen anbieten sollten. Private Unternehmen, sagen 40 Prozent, nur gemeinnützige Unternehmen, sagen ebenfalls 40 Prozent und 20 Prozent finden, nur staatliche Unternehmen. Bei Twitter lautete seine Frage: „Sollte es privatwirtschaftliche Unternehmen mit Profitinteressen in der Gesundheitsversorgung geben?“. Die deutliche Antwort von 75,9 Prozent der Teilnehmer: Nein! Nur 24,1 stimmten mit Ja.

Was hat das mit Digitalisierung zu tun?

Die Frage nach der Kapitalquelle ist auch deshalb zum jetzigen Zeitpunkt so spannend, weil gerade im niedergelassenen Bereich in Sachen Digitalisierung noch viel Luft nach oben ist. Wenn Sie in eine Zahnarztpraxis kommen und ihnen am Empfang ein Tablet statt eines Bogen Papiers zum Ausfüllen gereicht wird, können Sie fast sicher davon ausgehen, dass hier ein Investor seine Hände im Spiel hat. Die Unterschiede im Digitalisierungsgrad und in der Ausstattung sind also bereits deutlich zu sehen. Und das kennen wir ja auch aus dem stationären Sektor, wo erst mit den Fördergeldern des KHZG so richtig Schwung in die Digitalisierung kommt.

Um es noch einmal zu wiederholen: Ohne Kapital wird es nicht gehen. Die Frage, woher das Kapital kommt, entscheidet jedoch die künftige Marschrichtung. Und deshalb denke ich, müssen hier von offizieller Seite ein paar Spielregeln festgelegt werden. Nur privat ist sicherlich kein gangbarer Weg. Ähnlich wie bei den Kliniken braucht es auch gemeinnützige und staatliche Einrichtung unter den Niedergelassenen – beispielsweise in Form von regionalen medizinischen Versorgungszentren. Denkbar wäre auch ein digitales Konjunkturpaket analog zum KHZG, was die Unterstützung privater Investoren reduzieren würde. Denn die schauen natürlich auf die Fachrichtungen, die unter wirtschaftlichen Aspekten besonders attraktiv sind. Für die Versorgungsqualität wäre es hingegen schlecht, wenn es in einer Region überproportionale viele Praxen für Zahnmedizin und Augenheilkunde gäbe.

Bei der Suche nach Antworten können wir uns auch wieder in Märkten umschauen, die gewisse Transformationsschritte schon hinter sich haben. Beispiel USA: Dort sind laut dem Physicians Advocacy Institute mittlerweile fast 70 Prozent aller Ärztinnen und Ärzte angestellt – entweder in einem Krankenhaus oder bei einer Kapitalgesellschaft, wozu vor allem durch Investoren und Private Equity finanzierte Organisation zählen. Das Interessante daran: Diese Entwicklung in den USA ist brandaktuell. Im Januar 2019 lag die Quote der angestellten Ärztinnen und Ärzte bei „nur“ 62,2 Prozent, im Juli 2020 schon bei 65,8 – bis zum großen Sprung auf 69,3 Prozent im Januar 2021.

Wollen wir in Deutschland eine ähnliche Entwicklung? Falls die Antwort „Nein“ lautet, müssen wir jetzt nach (finanzkräftigen) Alternativen suchen. Was sich die Ärzteschaft wünscht, kann ich anhand der vorliegenden Zahlen nur versuchen, zu interpretieren. Nach Angaben der Bundesärztekammer waren zum Jahresende 2020 insgesamt 409.121 Ärztinnen und Ärzte berufstätig – davon der Großteil (211.904) angestellt im Klinikbereich. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung KBV rechnet vor, dass sich die vertragsärztliche Versorgung aus 180.581 Ärztinnen, Ärzte, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten zusammensetzt. Davon sind 20.746 in Praxen angestellt, 21.885 in einem MVZ oder weiteren Einrichtungen angestellt, 9.222 „ermächtigt“, arbeiten also beispielsweise in einer Klinik und haben eine Sondererlaubnis für die vertragsärztliche Versorgung und es 1.405 Partnerärzte und -ärztinnen, die etwa in einem überversorgten Gebiet in einer, wie es früher hieß, Gemeinschaftspraxis tätig sind.

Wer so schnell nicht mitrechnen konnte: Übrig bleiben 127.323 unternehmerisch tätige Ärztinnen und Ärzte in Deutschland. Ich lehne mich also nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich sage, dass die Mehrheit der Ärzteschaft eine Anstellung bevorzugt. Wenn wir die Versorgung in der Fläche also auch weiterhin auf einem qualitativ hochwertigen Niveau gewährleisten wollen, müssen wir Lösungen finden – und private Investoren als Betreiber von Arztpraxen sind eine Option.