Es gibt sie immer wieder, Begriffe, mit denen sich jedes Unternehmen assoziiert wissen will. Im Gesundheitswesen war es erst die Telemedizin, jetzt sind es die Plattformen. Für Kunden wird es dabei allerdings immer schwieriger, die Spreu vom Weizen zu trennen.
2022 war ein gutes Pilzjahr, habe ich mir sagen lassen – also zumindest wurden fleißige Sammler jetzt im Herbst zur Pilzhochsaison für die zu trockenen Sommermonate entschädigt. Steinpilze, Röhrlinge, Birkenpilze und wer die richtigen Stellen kennt, findet durchaus auch schmackhafte Pfifferlinge oder gar eine Krause Glucke. Wie jedes Jahr zu dieser Zeit warnen Naturschutzverbände und Mediziner jedoch auch vor gefährlichen Verwechslungen. So mancher Speisepilz hat nämlich giftige Doppelgänger und wer statt eines Parasols den Safranschirmling erwischt, hat im Nachgang an sein Mahl bestenfalls mit einer üblen Magenverstimmung zu kämpfen.
Dabei sind Pilze absolut faszinierend, denn dass, was wir ernten ist nur ein Fruchtkörper. Dieser oberirdische Teil dient eigentlich nur zur Verteilung der Sporen und damit der Vermehrung. Der viel größere Teil des Pilzes stellt ein unterirdisches Geflecht dar, dass unter optimalen Bedingungen binnen weniger Stunden die für uns so schmackhaften Fruchtkörper aus dem Boden sprießen lässt.
Sie haben die Pilzsaison verpasst? Keine Sorge! Ein ähnliches Phänomen lässt sich aktuell auch im Gesundheitswesen beobachten. Dort sind es allerdings keine Pilze, die urplötzlich überall auftauchen, sondern Plattformen. Nahezu jeder Akteur, der etwas auf sich hält, überschlägt sich gerade damit, die eigene Plattform zu lancieren. Dabei scheint der Begriff sehr dehnbar, welchen Zweck manche Plattformen verfolgen, ist auch nicht immer klar, und für potenzielle Kunden heißt es deshalb wie beim Gang in die Pilze: Augen auf vor Ungenießbarem.
Menschen zusammenbringen
Um die aktuellen Geschehnisse besser einordnen zu können, ist es zunächst ratsam, die Plattformökonomie als solche zu verstehen. Die ist nämlich keinesfalls eine neue Erfindung. Vielmehr sind es die großen Plattformen wie Ebay, Uber oder Amazon, denen derzeit alle nacheifern. Kein Wunder, handelt es sich bei allen genannten um überaus erfolgreiche Unternehmen, deren monetäre Übermacht ausschließlich darauf beruht, Angebot und Nachfrage auf einer Art Marktplatz zusammenzubringen – und zwar nahezu konkurrenzlos.
An dieser Stelle lohnt ein kleiner Exkurs, um den Unterschied zwischen einem reinen Marktplatz und einer Plattform zu verstehen. Der Hauptgrund, warum niemand an Amazon (oder anderen etablierten, „echten“ Plattformen vorbei kommt), ist der direkte Zugang zu den Endkunden. Und den hat Amazon über seine zahlreichen Zusatzservices, Amazon Prime, erfolgreich aufgebaut. Anstatt also „nur“ Angebot und Nachfrage zusammenzubringen, schaffen Plattformanbieter mit einem hohen Servicegrad – aus IT-Sicht spielt hier auch die Usability extrem mit rein – einen starken Anreiz für die Endkunden, ihre Plattform als erste Anlaufstelle zu nutzen. Nichts anderes hat Google mit seiner Suchmaschine geschaffen, die es als Verb sogar in den deutschen Sprachgebraucht geschafft hat. Hand aufs Herz: Wie oft googlen Sie?
Der Grund, warum gerade das halbe Gesundheitswesen zu Plattformanbietern werden will, ist wohl aber die Übermacht, die die großen Vorbilder in anderen Bereichen geschaffen haben. Die Berater von _fbeta haben sich für eine aktuelle Studie, erschienen Ende September 2022, mit dem klangvollen Namen „Steigerung von Innovationen und Produktivität im Gesundheitswesen durch Einsatz digitaler Plattformen“ gerade die Mühe gemacht, die verschiedenen Plattformtypen zu definieren und sind dabei auf drei gekommen: Die Entwicklungs- und Produktplattform, die Integrationsplattform und die Vernetzungsplattform. Und während alle drei Varianten ihre Berechtigung haben, ist die Vernetzungsplattform für das Gesundheitswesen aktuell sicherlich die spannendste. Denn sie stellt neben Beziehungen von Komponenten und Systemen auch Beziehungen zwischen Akteuren her. Und das ist derzeit das vielleicht größte Manko der modernen Medizin: Es bestehen kaum bis gar keine Beziehungen zu den wichtigsten Personen im Gesundheitswesen, den Patientinnen und Patienten.
Auf das Netzwerk im Hintergrund kommt es an
Der Vormarsch der Plattformökonomie im Gesundheitswesen hat also durchaus seine Berechtigung. Und auch die bereits im Studientitel angesprochene „Steigerung von Innovationen und Produktivität“ ist greifbar. Was dabei jedoch offensichtlich vergessen wird – und hier komme ich noch einmal auf die Pilzanalogie zurück: Was wir als Nutzer am Ende des Tages als Plattform sehen und bedienen, ist lediglich der Fruchtkörper. Ein kleiner, Frontend genannter Teil eines idealerweise weit verzweigten Netzwerkes.
Ohne ein solches Netzwerk, ein Partnerökosystem, keine Plattformökonomie. Für Shop-Betreiber ist es günstiger und effizienter, die Waren über Ebay oder Amazon zu verkaufen, weil dort die Kunden sind. Die sind allerdings auch nur dort, weil beide Unternehmen im Vorfeld dafür gesorgt haben, dass die interessanten Shops und Marken auf ihrer Plattform vertreten sind. Sie haben also ihr „unterirdisches“, weil für den Endkunden nicht sichtbares Geflecht weiter ausgebaut – Stichwort „Zusatzservices“ weiter oben. Dieses Vorgehen lässt sich bei den Unternehmen, die in der Plattformökonomie erfolgreich sind, immer beobachten – unabhängig von der Branche.
Nach dem Boom kommt die Konsolidierung
Dass derzeit jeder bestrebt ist, eine eigene Plattform aufzubauen, ist durchaus verständlich – aber eben weder wirtschaftlich noch zielführend. Es gab durchaus Unternehmen, die versucht haben, die großen Plattformen zu „challengen“ – und damit gescheitert sind. Das ist ein absolut normaler Prozess und nach einer anfänglichen Expansion erfolgt immer auch eine Konsolidierung – weil sich eben nur durchsetzt, wer erstens frühzeitig ein entsprechend starkes Partnerökosystem als Basis aufgebaut hat und damit zweitens den Kunden und Nutzern einen wirklichen Mehrwert bieten kann.
Was an der aktuellen Phase also vor allem kritisch ist: Kunden und Nutzer müssen die „genießbaren“ Pilze von den „ungenießbaren“ unterschieden. Dafür gibt es Hilfestellungen, keine Frage, und trotzdem muss man wie beim Pilzesammeln doch genau hinschauen, damit nicht ein einziger Pilz das ganze Gericht verdirbt.
Worauf man bei der Auswahl eines Plattformanbieters jetzt achten sollte, ist also zunächst das „unterirdische Geflecht“. Mit wem arbeitet er zusammen? Wurden Partnerschaften geschlossen? Wird über Schnittstellen ein offenes System gefördert und gefordert? Das alles können erste Hinweise auf die Nachhaltigkeit einer Plattform sein. Und dann lohnt sich auch der Blick in die Zukunft. Geht es darum, eine kurzfristige Lösung anzubieten oder wird bereits an morgen und übermorgen gedacht? Auch hier können offene Schnittstellen schon eine Menge verraten. In welche Zeitabständen werden Software und Code hinterfragt? Wird beziehungsweise kann zeitnah auf Marktveränderungen reagiert werden? Wir sind in einer kritischen Phase der digitalen Transformation, falsche Schritte können an dieser Stelle teuer werden und weit mehr als nur ein Magengrummeln verursachen.