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Von wirklichen Vorreitern

Zwei Tage auf einer Konferenz in Sarajevo haben gereicht, um zu begreifen: Die Überholspur ist voll und wenn wir noch lange warten, wartet niemand mehr auf uns.

Mitte September hatte ich das Vergnügen, Berufliches mit Angenehmen zu verbinden. Ich war in Sarajevo, der wie ich finde schönsten Stadt der Welt, und dort als Key Note Speaker auf einer Konferenz eingeladen. Genauer gesagt auf der 16. Mediterranean Conference on Medical and Biological Engineering and Computing, kurz MEDICON, sowie der 5. International Conference on Medical and Biological Engineering, kurz CMBEBIH.


Natürlich habe ich mich über die Einladung und damit verbundene Gelegenheit sehr gefreut – nicht nur, weil ich meine Familie in Sarajevo gesehen habe, sondern weil Digital Health auch in meinem Heimatland diskutiert wird. Allerdings muss ich zugeben, dass meine Erwartungen an die Qualität der Veranstaltung nicht sonderlich hoch waren. Das war eine große Fehleinschätzung. Ich wurde nicht nur angenehm überrascht, ich war beeindruckt.

Die Überholspur ist voll

Zum einen waren beide Konferenzen mit hochkarätigen Speakern besetzt, es wurden Ergebnisse aus Italien und Spanien präsentiert, bei denen ich nur staunen konnte, wie viele andere Länder bei Themen wie dem Europäischen Raum für Gesundheitsdaten, EHDS, oder auch Künstlicher Intelligenz schon so viel weiter sind als wir hier in Deutschland. Mehr noch: Es wurden Use Cases präsentiert, die über Landesgrenzen hinweg funktionieren. Kurz: Das starke Deutschland mit dem so oft zitierten besten Gesundheitssystem war nicht die starke Nation auf dieser Konferenz. Es waren die vermeintlich kleinen, weniger erfolgreichen Länder, die ihre spannende Use Cases präsentiert haben und bemerkenswert schlau in die klugen Köpfe im eigenen Land investieren. Sogar auf dem Balkan ist die Vernetzung unfassbar weit fortgeschritten.
Ich würde sogar so weit gehen, dass ich mit einem reinem Blick auf die digitalen Prozesse gerne Patient in den präsentierenden Ländern wäre. Sämtliche Daten liegen digital vor – nicht als PDF –, der behandelnde Arzt kann sie direkt bearbeiten, eRezepte ausstellen und die Behandlung selbst wird digital dokumentiert, so dass die Patienten alle Informationen zentral auf ihrer digitalen Versicherungskarte haben und sie jederzeit abrufen können. Klingt aus deutscher Sicht nach ferner Zukunft, ist in vielen Teilen Europas jedoch bereits gelebte Realität.

Auch der Rest der Welt schläft nicht

Wir müssen also gar nicht immer über den großen Teich oder gen Asien schielen, um zu merken, wie uns der Wettbewerb davonrast. Wobei sich der Blick in die USA aktuell durchaus lohnt. Dort haben sich nämlich sage und schreibe Google und das US-Verteidigungsministerium zusammengetan, um ein Augmented-Reality-Mikroskop zu entwickeln. Google arbeitet seit 2018 an dem Prototypen, der nun bereit zu sein scheint, kommerziell vermarktet zu werden. Das revolutionäre Mikroskop soll nicht nur in der Lage sein, die zu analysierenden Proben zu vergrößern, sondern visuelle Indikatoren zu überlagern, die von einer speziell für diesen Zweck trainierten KI erzeugt und in der Lage sein werden, Heatmaps oder auch Grenzen von Objekten in Echtzeit anzuzeigen. Mindblowing, ich weiß.

Eine weitere, dieser höchst interessanten neuen Zusammenschlüsse – immerhin mit deutscher Beteiligung – ist der zwischen der Internationalen Atomenergiebehörde, IAEA, und Siemens Healthineers. Ziel ist es, gemeinsam die Kapazitäten für die Krebsdiagnose und -behandlung in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen zu stärken und das gegenseitige Fachwissen auf neue Weise zu nutzen, um die weltweit steigende Belastung durch eine Krankheit zu bekämpfen, an der jedes Jahr Millionen von Menschen sterben.

In Deutschland kein Ruck zu spüren

Ich kann also jedem nur empfehlen, die deutsche Grenze zu passieren und sich mit offenen Augen und – noch wichtiger – offenem Geist in anderen Ländern umzuschauen. Ob die Grenze im Norden, Osten, Süden oder Westen passiert wird, ob die Reise weit ist oder nicht, spielt dabei eigentlich keine Rolle. Überall um uns herum bewegt sich etwas, ist Aufbruchsstimmung zu spüren, entstehen im Kleinen oder Großen Innovationen. In Deutschland spüre ich diesen Ruck nicht. Im Gegenteil, wir lassen uns nach wie vor von bürokratischen und/oder Sektorgrenzen ausbremsen, nutzen die fehlende Interoperabilität als Entschuldigung oder schaffen noch mehr bürokratische Strukturen, indem wir einfach mehr Gesetze, Förderprogramme und Reformen schaffen, die am eigentlichen Ziel vorbeischießen: Raum für echte Veränderung, nicht nur halbherzige Ausbesserungen am bestehenden System.

Auf zwei Dinge bin ich sehr gespannt: Erstens, ob ich im kommenden Jahr überhaupt noch einmal zu einer so hochkarätig besetzten europäischen Konferenz eingeladen werden. Schließlich musste ich mich mit meinem deutschen Hut schon in diesem Jahr an der einen oder anderen Stelle ducken. Wenn wir jetzt nicht langsam in den nächsten Gang schalten und zumindest eine passable Reisegeschwindigkeit aufnehmen, glaube ich nicht, dass auf der 17. MEDICON und/oder der 6. CMBEBIH überhaupt noch einer hören will, was ein deutscher Vertreter zu sagen hat. Und damit sind wir bei zweitens: Wo wird Deutschland im nächsten Jahr stehen? Werden wir zu dem kranken Mann Europas, zu dem uns viele jetzt schon machen wollen? Werden wir weiter an den (zu) vielen Old-Business-Modellen und Routinetätigkeiten festhalten oder gelingt der Wandel zu New-Business-Modellen?

Ich bin wie gesagt sehr gespannt und werde trotz meines eigentlich unerschütterlichen Optimismus langsam zu einem optimistischen Realisten. Denn was mir die zwei Tage in Sarajevo wieder einmal deutlich vor Augen geführt haben: In Sachen Zukunft schläft derzeit eigentlich niemand – außer vielleicht wir. Noch hoffe ich sehr, dass es nur der berühmte Power Nap ist, aus dem wir gestärkt aufwachen und das tun, was wir schon lange tun müssten: Gas geben!