Mit 18 Jahren ist man – und Frau auch – in Deutschland volljährig. Die Telematikinfrastruktur steckt in ihrem 18. Lebensjahr hingegen noch immer in den Kinderschuhen, befindet KBV-Vorstand Thomas Kriedel. Verfolgen wir in Sachen Digitalisierung in Deutschland vielleicht die falschen Interessen? Eine Frage für Quo Vadis Digital Health im Mai.
Sollten Sie die „Brandrede“ von KBV-Vorstand Thomas Kriedel zur Telematikinfrastruktur nicht gelesen oder gehört haben: Seine Worte waren deutlich und so gar nicht politisch korrekt. Von „Katastrophe“ sprach er, nannte die Spahnsche Digitalisierungspolitik eine „Luftnummer“ und forderte eine „grundlegende Weichenumstellung“.
Dass ein Verband mit politischen Entscheidungen, Maßnahmen oder der Regulatorik nicht einverstanden ist, dürfte nicht überraschen. Dennoch lohnt eine Analyse dieser deutlichen Kritik, weil sie einige wichtige Punkte aufzeigt, an denen es in Sachen Digital Health in Deutschland gerade hakt, wo wir als Branche und Gestalter aktuell stehen, wo wir nachbessern müssen, sie zeigt aber eben auch sehr deutlich das Selbstverständnis von Intressensvertretungen wie der KBV – ideal also für Quo Vadis Digital Health im Mai.
Keine Akzeptanz, keine Digitalisierung
Egal ob TI, ePA, eArztbrief, eRezept oder die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung – nichts funktioniere, befindet die kassenärztliche Vereinigung. Kriedel spricht von Technik-Ausfällen, Störungen und Disruption der Praxisabläufe. „Fast 4.000 Stunden liefen die TI oder einzelne Komponenten und Dienste nicht, innerhalb von etwas mehr als einem Jahr“, führt er in seiner Rede aus.
Und genau hier spricht er einen für mich entscheidenden Punkt an: Technik soll uns das Leben und die Arbeit erleichtern. Wenn sie diesen Auftrag nicht erfüllt, welchen Zweck hat sie dann überhaupt? Hiermit sind wir bei meiner oft getroffenen, weil absolut richtigen und wichtigen Aussage: Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Wie wollen wir die Ärztinnen und Ärzte, die Pflegekräfte und andere im Gesundheitswesen beschäftigte Personen von den Vorzügen der Digitalisierung überzeugen, wenn sie in ihrer täglichen Arbeit keinen Mehrwert, sondern nur Mehraufwand und -kosten haben? Von 9.000 Euro pro Praxis spricht die KBV mittlerweile, die für die TI schon draufgezahlt werden mussten.
Was er jedoch vergisst zu erwähnen: An vielen Stellen ist die KBV selbst „Verhinderer“ von digitalem Fortschritt, etwa weil geforderte Lösungen eben nicht den skalierungsfähigen Standards entsprechen, nicht auf offene Schnittstellen setzen oder auf dem neusten Stand sind. Hier fällt mir das Sprichwort ein: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen – oder zumindest sollten die nicht zu groß sein.
Vielmehr sollten wir uns – und damit meine ich das gesamte Gesundheitswesen – darauf konzentrieren, was im Technik-Sprech so schön als User-oder Customer-Centricity bezeichnet wird. Denn das ist eines der Kernelemente, wenn es darum geht, ob sich eine Lösung durchsetzt. Genau das bestätigt der KBV-Vorstand in seiner Rede. Und genau hier haben wir an sehr viele Stellen in Deutschland noch einige Hausaufgaben zu erledigen, wie er aufzeigt. Wobei das aus meiner Sicht auch für die KBV gilt: Mehr User-Centricity, weniger Lobbyismus und Protektionismus für bestehende Strukturen.
Zu viele Interessen, zu viele Kompromisse
Was die Brandrede jedoch auch unterstreicht: Die Interessenslage im Gesundheitswesen ist, nennen wir es mal, breit gefächert. Das zeigt vor allem das Beispiel des hitzig diskutierten eRezepts. In einer Pressemitteilung der gematik vom 1. Juni heißt es dazu: „Ab 1. September 2022 werden die Apotheken in ganz Deutschland elektronische Rezepte annehmen. In Schleswig-Holstein und Westfalen-Lippe werden in Pilot-Praxen und -Krankenhäusern dann hochlaufend zu einem flächendeckenden Verfahren E-Rezepte ausgestellt. Auf diese erste Stufe des Rollouts haben sich die Gesellschafter der gematik am 31. Mai einstimmig geeinigt.“ Hinter den Kulissen wurde dieser Kompromiss hart erkämpft, heißt es. So berichtet beispielsweise die Wirtschaftswoche: „Nach mehr als vier Stunden Diskussionen stimmten die Gesellschafter einstimmig einer Beschlussfassung zu. Demnach startet das E-Rezept von September an in den Regionen Schleswig-Holstein und Westfalen-Lippe mit verstärkten Tests – allerdings ohne eine verpflichtende Teilnahme von Arztpraxen. Hier hat sich dem Vernehmen nach die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) durchgesetzt – und dafür im Gegenzug dem Projekt trotz großer Vorbehalte zugestimmt.“
Wäre die gematik ein echter Innovator und das eRezept „the next big thing“, wäre die Gemengelage sicherlich eine andere – nicht, weil innovative Köpfe keine Fehler machen oder nicht auch vor Hürden stehen. Sie müssen sich in der Regel aber viel stärker am Markt und vor allem am Kunden ausrichten und verlieren sich deshalb weniger in (politischen) Interessenskonflikten. Was ich damit sagen will: Viele der von der Regierung gut gedachten oder gut gemeinten Digitalisierungsprojekte kommen auch deshalb nicht voran, weil die Interessen verschiedener Gruppierungen über den Bedürfnissen der eigentlichen Nutzer stehen. Denn am Ende des Tages geht es im Gesundheitswesen doch immer nur darum, Patientinnen und Patienten möglichst gut zu versorgen und /oder gesund zu erhalten. Und alles, was auf dieses Ziel einzahlt, sollte per se erst einmal als positiv bewertet werden, oder?
TI darf nicht scheitern
An dieser Stelle sollte auch die KBV hellhörig werden, die zwar in der Pflicht ist, die Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten, eine umfassende Patientenzentrierung sollte jedoch auch weit oben im Interesse ihrer Mitglieder stehen. Ich denke, dass wir uns die Frage stellen sollten, welches übergeordnete Ziel wir erreichen wollen und ob die eigenen Interessen diesem Ziel nicht sogar untergeordnet werden sollten. Denn wenn wir vor lauter Lobbyismus den internationalen Anschluss verpassen und ein Projekt wie die Telematikinfrastruktur auch nach 18 Jahren noch in den Kinderschuhen steckt, läuft etwas grundlegend falsch. Ob Kriedel aber Recht hat, wenn er „für die künftige Gestaltung unter dem Stichwort TI 2.0 einen neuen gesetzlichen Rahmen mit grundlegenden Weichenumstellungen“ fordert, wage ich zu bezweifeln. Ich bin der Meinung, wir sollten einfach mal machen und weniger versuchen. Bestes Beispiel ist die NASA, die viel versucht hat und ihre bemannten Flüge zur Raumstation ISS nun von einem privaten Unternehmen durchführen lässt. Das hat nämlich einfach mal gemacht.
Was ich vor diesem Hintergrund auch noch spannend finde, ist der jetzt bekannt gewordenen Wechsels von Sebastian Zilch, bisheriger Geschäftsführer des Bundesverbands Gesundheits-IT, bvitg, zum Bundesministerium für Gesundheit. Dort wird er die Unterabteilung gematik, TI und eHealth verantworten. Spannend ist das deshalb, weil auch er die letzten Jahre als Sprecher einer Interessensvertretung gewirkt hat und sich erst zeigen muss, ob er diese Brille ablegen, dafür die Brille der Patientinnen und Patienten aufsetzen wird. Denn die Gefahr ist durchaus vorhanden, dass er zwischen die unterschiedlichen Interessenvertretung des Gesundheitssektors kommt und dort buchstäblich zerrieben wird. Für das Vorankommen der Digitalisierung im Gesundheitswesen wäre es wünschenswert, wenn es ihm gelänge. Denn eine Neuauflage der Telematikinfrastruktur ist wichtig – allerdings nicht unter rein staatlicher Kontrolle, wie Kriedels Vergleich zum Strom-, Gas- oder Wassernetz suggerieren mag. Wenn wir eine TI 2.0 in weniger als 18 Jahren etablieren wollen, müssen alle Beteiligten zusammenarbeiten und ein Interesse verfolgen: Die bestmögliche Versorgung der Patientinnen und Patienten.