In unserem hocheffizienten, sehr spezialisierten Gesundheitssystem vergessen wir oft, worum es im Kern eigentlich geht: Die qualitativ hochwertige Versorgung der Patienten. Mit der Digitalisierung und dem KHZG haben wir nun die Chance, Prozesse neu zu gestalten. Und Mina Luetkens will mit ihrer Initiative Patients4Digital dafür sorgen, dass die Patienten in diesem Prozess eine selbstbestimmte und souveräne Rolle einnehmen können.
Frau Luetkens, es ist ein wenig paradox: Einerseits geht es bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens um die Patienten, die damit auch bei der Umsetzung der KHZG-Fördertatbestände im Fokus stehen sollten. Andererseits finden deren Meinungen und Wünsche bisher kaum Gehör. Ist das ein Grund, warum Sie Patients4Digital gegründet haben?
Wenn man mit Akteuren der Branche spricht, scheinen es wenige als paradox zu sehen. Da wird an vielen Stellen beteuert, patientenzentriert zu arbeiten und die Wünsche und Bedürfnisse in den Fokus zu stellen. Wenn man dann aber genauer hinschaut, wird schnell deutlich, dass es eine leere Standardantwort ist, die man da bekommt. Denn oftmals fehlt schlicht und ergreifend das Verständnis dafür, was es bedeutet, Patienten tatsächlich mit einzubeziehen. Für manche reicht es nämlich schon, über die Perspektive der Patienten nachgedacht zu haben und nur einige wenige haben tatsächlich mal direkt nachgefragt. Eigentlich müsste man jedoch konsequent beim Patienten starten und auch immer wieder auf ihn zurückkommen, wenn man ihn sinnvoll in die Behandlungsprozesse einbinden möchte. Genau deshalb haben wir Patients4Digital gegründet, wie Sie richtig vermuten.
Dabei ist die Gleichung doch recht einfach: Ohne Patient keine Medizin. Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass die Stimme der Patienten zu wenig beachtet wird?
Im Prinzip ist es ein natürlicher Verselbstständigungsprozess von Verantwortung. Denn wir haben zu einem bestimmten Zeitpunkt gesellschaftlich entschieden, dass unser Gesundheitssystem – anders als beispielsweise in den USA – an die Idee eines Sozialstaates gekoppelt sein soll. Und mit dieser Entscheidung steht der Staat in der Verantwortung. Die Schwierigkeit besteht in einer Regulierung, die in der Lage ist, sich dem Zeitgeist anzupassen, was sich am Beispiel des Datenschutzes sehr plastisch veranschaulichen lässt. Und auch wenn wir uns Patients4Digital nennen, geht es uns nicht um die Digitalisierung als Selbstzweck, sondern vielmehr um den Mehrwert digitaler Prozesse für die Patienten und wie sich darüber bestehende und starre Strukturen, auch regulatorischer Art, neu ordnen können. Wir können hier Parallelen zum Buchdruck und seiner Bedeutung für die Aufklärung ziehen: Die Digitalisierung befähigt die Patienten, lässt sie mündig werden und bietet damit – über echte Einbindung der Patienten in ihre eigene Gesundheitsversorgung – ein immenses gesellschaftliches Veränderungspotenzial.
Wobei die Fördertatbestände des KHZG doch klar aus Sicht der Patienten formuliert wurden.
Absolut, dafür muss man sich nur den Fördertatbestand zwei zu den Patientenportalen durchlesen, der zwar weit gefasst wurde, aber absolut ins Schwarze trifft. Die Formulierungen dieser Richtlinie sind von vorne bis hinten patientenorientiert gewählt, was sich vor allem auch an den übergeordneten Zielen ableiten lässt.
Warum klingt das nach einem großen Aber…?
Weil Papier am Ende des Tages geduldig ist und den meisten Verantwortlichen in den Häusern nicht unbedingt klar ist, was mit einer übergeordneten Verbesserung der Versorgungsqualität gemeint ist. Wir haben hier viele Gespräche geführt und auch genau danach gefragt. Die Antworten sind eher fragmentiert und zielen auf untergeordnete Aspekte wie „Termine werden besser eingehalten“ ab. Vielleicht wird auch noch die Arbeitserleichterung für die Belegschaft wahrgenommen. Die große Chance eines ganzheitlichen Krankenhauserlebnisses wird jedoch nur selten erkannt. Dabei gibt es ja mittlerweile genügend Ergebnisse aus der Forschung, die zeigen, dass sich ein positives Gesamterlebnis enorm positiv auf den Genesungsprozess der Patienten auswirkt.
Sollen dafür nicht aber gut durchdachte Patient Journeys sorgen?
Sollen sie, wobei der entscheidende Aspekt „gut durchdacht“ ist. Patient Journeys sind ja von den Customer Journeys des Design Thinking abgeleitet. Viele der Patient Journeys haben Ihren Namen nicht verdient. Mit meinem Hintergrund als Physikerin und mit einer gewissen Erfahrung im Ingenieurswesen erinnern sie mich eher an einen schlechten Fertigungsprozess. Die Patienten sind das Kernwerkstück, das nach Lust und Laune durch den „Herstellungsprozess“ geschoben wird. Dann gibt es Nebenprozesse, wo ein Teil schon mal „vorproduziert“ und anschließend „angeflanscht“ wird. Ich rede hier von Laboruntersuchungen oder bildgebender Diagnostik, die in keiner Weise zeitlich abgestimmt sind mit den Abläufen der Visite. Sprich: Selbst die Effizienz des Kernprozesses jeder Klinik, nämlich die Behandlung von Patienten, leidet darunter, dass es an einer ganzheitlichen Prozessorientierung fehlt. Die Orientierung an Behandlungspfaden hätte automatisch ein patientenorientiertes Ergbenis zur Folge.
Und wo kommt diese Ineffizienz Ihrer Meinung nach wieder hoch?
Diese Ineffizienz wird auf die Patienten abgeladen: Solang ein Patient in der Klinik ist, hat dieser gehorsam zu funktionieren. Deshalb stört es auch, wenn er oder sie etwas nicht möchte oder etwas hinterfragt. Und das ist das Absurde: Jede echte Customer Journey hat mehrere Punkte, an denen der Kunde eine Entscheidung trifft, was für die Macher einer solchen Journey das Spannende ist. Denn dahinter verbirgt sich die Frage, wie man an genau diesem Punkt dafür sorgen kann, dass sich der Kunde für A und nicht für B entscheidet. Welche Faktoren kann man am Produkt eventuell noch ändern, damit er sich für A entscheidet? Davon sind die Patient Journeys noch weit entfernt, müssen da aber unbedingt hinkommen, wenn sie einen wirklichen Mehrwert bieten sollen. Bis dahin sollten wir, wenn überhaupt, von Behandlunspfaden und nicht von Journeys sprechen – denn ein Krankenhausaufenthalt ist keine „Journey“.
Was denken Sie, braucht es, damit das KHZG mit seinen Fördertatbeständen erfolgreich ist?
Das KHZG ist ja sicher nur der Anfang. Wenn wir aber noch einmal auf die Patientenportale zurückkommen, über die wir schon gesprochen haben, glaube ich beispielsweise, dass die nur dann erfolgreich sein können, wenn nicht jede Klinik ihr eigenes Ding macht. Denn ansonsten ist die Gefahr groß, dass digitale Angebote gar nicht wahr- oder angenommen werden. Wenn wir Akzeptanz wollen, müssen die Hürden möglichst niedrig sein. Hier kann das Gesundheitswesen eine Menge von anderen Branchen, beispielsweise dem Banking lernen. Ich denke, wir brauchen heute den Mut, zumindest regional einheitliche Lösungen zu schaffen. Denn dann sehen die Patienten schnell den Mehrwert für sie, etwa, wenn sie eine Knie-OP benötigen und sich im Portal direkt anschauen können, welche Kliniken der Region genau diese Operation anbieten. Ein Portal für alle meine Klinikaufenhalte, das macht Sinn. Und dann habe ich als Patient die Wahl, ob mir der gut bewertete emphatische Arzt oder die neueste OP-Technik wichtiger ist. In dem Moment bin ich nicht mehr nur Patient, sondern auch Kunde des Krankenhauses.