Digitalisierung heißt, Prozesse neu zu denken. Doch das ist in der Praxis nicht immer leicht. Wie Design-Thinking-Ansätze auch dem Gesundheitswesen dabei helfen können, die Herausforderungen der digitalen Transformation zu meistern, verrät mir Prof. Uli Weinberg im Gespräch.
Herr Prof. Weinberg, zunächst müssen wir unseren interessierten Lesern vermutlich verraten, wie Design Thinking zum KHZG passt, respektive die Verantwortlichen bei möglichen Herausforderungen unterstützen kann.
Das sollten wir vermutlich. Grundsätzlich ist Design Thinking ein Ansatz, um Herausforderungen zu lösen, neue Ideen zu generieren und dabei stets den Anwender mit seinen Bedürfnissen und Wünschen im Blick zu haben. Oder mit anderen Worten: Das Spezialgebiet der HPI School of Design Thinking ist es, Menschen und Unternehmen in transformativen Zeiten zu unterstützen.
Das machen Sie seit 14 Jahren. Haben sich die Herausforderungen seitdem verändert?
Mittlerweile befindet sich nahezu die gesamte Gesellschaft in einer digitalen Transformation und die größte Herausforderung, vor der eigentlich alle Branchen stehen – auch das Gesundheitswesen –, ist Folgende: Unternehmen müssen lernen, sich von dem zu lösen, was sie anbieten. Heute gilt es, nicht mehr das Produkt oder den Service, sondern Nutzer, Kunden oder eben Patienten in den Vordergrund zu stellen. Das ist ein Paradigmenwechsel, der nicht an jeder Stelle leichtfällt.
Das ist insofern interessant, als dass es im Gesundheitswesen ja letztendlich um den Patienten, seine Behandlung und im Idealfall Genesung geht.
Absolut. Nur ist gerade im Gesundheitswesen über die Jahrhunderte ein enormes Erfahrungspotenzial gewachsen. Es gibt ganze Geschäftszweige, die darauf aufbauen, dass bestimmte Dinge für Behandlungen und Untersuchungen gebraucht werden, was alles extrem, ich nenne es mal, „durchentwickelt“ ist. Und bei all dem ist der Patient dahinter ganz häufig überhaupt nicht mehr sicht- oder wahrnehmbar. Ich erinnere mich an ein langes Gespräch vor einigen Jahren mit einem Professor der Charité, der mir sein Fachgebiet sehr ausführlich an einem White Board aufgezeichnet und erklärt hat. Bei allen Informationen, Zusammenhängen und Abhängigkeiten habe ich nach etwa einer Stunde gefragt, wo eigentlich der Patient bleibt. Er spielte in der ganzen, sehr ausführlichen Erklärung überhaupt keine Rolle. Das ist ein Aspekt, der mir aktuell nicht nur in der Medizin, sondern in vielen Bereichen auffällt.
Welche Schlüsse sollten die Verantwortlichen in den Häusern Ihrer Meinung nach daraus ziehen?
Ich denke, für die Behandlung von Patienten ist es wichtig, nicht nur einen Menschen zu sehen, der beispielsweise ein kaputtes Knie, sondern vielleicht auch noch familiäre Probleme hat, sich schlecht ernährt, viele Treppen steigen muss und Raucher ist. Denn all diese Faktoren haben einen immensen Einfluss auf seine Genesung, auch auf die eines Knies. Und genau diese ganzheitliche Betrachtung eines Patienten kann mit einem Design-Thinking-Ansatz gelingen – vor allem, wenn verschiedene Experten in die Behandlung eingebunden werden.
Jetzt haben Kliniken mit den Digitalisierungsprojekten rund um das KHZG schon alle Hände voll zu tun und nun kommen Sie und sagen, plakativ gesprochen, die Häuser müssen zusätzlich einen Design-Thinking-Ansatz berücksichtigen. Ist das in der aktuellen Phase vielleicht zu viel des Guten?
Design Thinking unterstützt Transformationsprozesse, sodass es keine zusätzliche Last ist, einen solchen Ansatz jetzt im Rahmen des KHZG einfließen zu lassen. Im Gegenteil. Auch hier habe ich ein Beispiel aus der Praxis, das meine Argumentation unterstreicht. Zum Hintergrund: Ein Patient wurde mit einer Beinverletzung in die Notaufnahme eingeliefert und dort versorgt. Der Belegschaft war jedoch nicht klar, dass dieser Patient auch an Demenz litt. Er hat dann, verwirrt über die Verletzung und die Einlieferung ins Krankenhaus, in einem unbeobachteten Moment die Notaufnahme verlassen, was sogar durch die Presse ging. Das war der Trigger für die Klinik, sich das gesamte Prozedere und auch die „Patient-Experience“ in der Notaufnahme genauer anzuschauen. Die Frage die damals im Raum stand: Wie kann es gelingen, das wichtige Informationen die Behandler erreichen, ihre Arbeit erleichtern und damit die Versorgung der Patienten verbessern. Und genau darum geht es der Politik ja auch aktuell mit der KHZG-Förderung.
Design Thingking sorgt also dafür, dass analoge Prozesse nicht nur eins zu eins in die digitale Welt übertragen, sondern im Idealfall neu gedacht werden?
Genau. Ich vergleiche das gern mit dem Brockhaus, der analog über 200 Jahre gewachsen und das Instrument der Wissensaggregation ist. Nun kommt die digitale Ablösung, komplett anders organisiert. Wir haben hier nicht etwa eine PDF-Version des Brockhaus, sondern eine Vernetzung von Begrifflichkeiten, die digital an einem beliebigen Ort liegen, über das jeweilige Schlagwort jedoch jederzeit abgerufen werden können. Und diese Wissenspunkte sind sogar noch mit anderen Wissenspunkten verknüpft, stehen damit in einem Kontext. Analoge Strukturen wie beispielsweise eine alphabetische Ordnung werden damit überflüssig. Dieses neue Muster der Vernetzung können wir sehr gut auf verschiedene Aspekte und sogar ganze Branchen übertragen. Anstatt also im Gesundheitswesen weiterhin Silos und Spezialisierungen zu pflegen und sorgsam voneinander zu trennen, was in der analogen Welt nötig war, um das Wissen beherrschbar zu halten, haben wir nun die Möglichkeit, über eine stärkere Vernetzung für eine Patienten-orientierte Versorgung zu sorgen. In den Köpfen herrscht allerdings immer noch die Brockhaus-Struktur. Und die gilt es für eine erfolgreiche digitale Transformation einerseits zu erkennen und dann aufzubrechen, wozu Design Thinking, meiner Meinung nach, einen großen Beitrag leisten kann.