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Eine ehrliche Bestandsaufnahme, bitte

Reformen, Revolutionen und Rückschritte – der Februar hatte in Sachen Gesundheitsversorgung so einiges zu bieten. Vor allem haben die vergangenen vier Wochen aber gezeigt, dass es an immer mehr Stellen im System ächzt und knarrt. Wir müssen also etwas verändern, aber bitte an den richtigen Stellen. Quo Vadis Digital Health: Eine ehrliche Bestandsaufnahme ist gefragt.

Wer das Interview von Berlin.Table mit unserem Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach nicht gelesen hat: Anscheinend wird 2023 zum Wendepunkt für die Gesundheitsversorgung in Deutschland. Von über einem Dutzend neuer Gesetzesvorhaben ist die Rede, die geplante Krankenhausreform wird als Revolution bezeichnet, Niedergelassene sollen vor den Fängen großer Investoren geschützt werden und natürlich steht auch die Digitalisierung ganz oben auf seiner Agenda, wie er ausführt: „In wenigen Wochen kommen genau dazu neue große Gesetze. Zur Digitalisierung und besonders das Datennutzungsgesetz. Daran arbeiten wir seit vielen Monaten, und da ist auch vorgesehen, dass die elektronische Patientenakte für alle Alltag wird, und zwar als Opt-Out-Variante.” Mittlerweile ist es soweit. Donnerstag wird der erste Entwurf der Digitalstrategie vorgestellt. Wir alle sind gespannt.

Karl Lauterbach wäre jedoch kein echter Politiker, wenn er die Antworten auf manchen Fragen geschickt umgeht – etwa die nach dem Investitionsbedarf der Krankenhausreform oder gar nach Klinikschließungen. Was ebenfalls fehlt, ist der Fachkräftemangel oder vielmehr die „Fachkräfteflucht“, wie es Dr. Albrecht Klöpfer, Leiter des Hauptstadtbüros der Deutschen Gesellschaft für Integrierte Versorgung im Gesundheitswesen, DGIV, im Magazin Healthcare & Management so treffend beschrieben hat. Als Beleg führt er den Wert von 25 Prozent an. So viele Ärztinnen und Ärzte überlegten mittlerweile, ihren Beruf an den Nagel zu hängen. Pflegekräfte steigen im Schnitt nach acht Jahren aus, Physiotherapeuten bereits nach sieben. 

Rentenversicherung mischt mit

Zu allem Überfluss meldet sich jetzt auch noch die Deutsche Rentenversicherung zu Wort. Hatte sie den „Poolärzten“ in der Notfallversorgung bisher eine freiberufliche Tätigkeit zugestanden, bewertet sie das Einspringen in den Notdienst für Kolleginnen und Kollegen jetzt als abhängige Beschäftigung. Sprich: Alleine die in Baden-Württemberg tätigen 1.700 Poolärzte müssten in die Festanstellung. Laut der dortigen Kassenärztlichen Bundesvereinigung, KVBW, drohe damit der Kollaps des Bereitschaftsdienstes. 1,3 Millionen Patientinnen und Patienten wären davon betroffen. KVBW-Chef Karsten Braun sagt gegenüber den Stuttgarter Nachrichten: „Nur mit dem Poolarztsystem schaffen wir es, viele dringend benötigte Ärzte noch in der Regelversorgung zu halten.

Stellt man nun die Reformmotivation des Bundesgesundheitsministers der restlichen Nachrichtenlage gegenüber, kommt man nicht umhin, eine gewisse Diskrepanz festzustellen. Mehr noch: Mit ein wenig Abstand wird deutlich, dass Reformen zwar dringend nötig sind, vor allem aber an Prozessen und Strukturen etwas verändert werden muss, damit das System nicht kollabiert. Wer innerhalb der bestehenden Strukturen denkt und hier „nur“ mit ein wenig frischer Farbe aufpolieren will, wird nichts erreichen.

Bestandsaufnahme gefragt

Wir Menschen sind ja nun einmal Gewohnheitstiere und wenn wir es uns erst einmal gemütlich gemacht haben, fällt Veränderung sehr schwer. Nirgends wird das so deutlich, wie im Gesundheitswesen. Hier gibt es viele kleine Hoheitsgebiete, die niemand so recht aufgeben will. Deshalb ist echte Transformation so selten und deshalb wird immer noch zu sehr sektoral gedacht – das KHZG wie auch die Krankenhausreform unterstreichen das. Jetzt höre ich förmlich den Einwand: Aber wir müssen ja irgendwo anfangen. Ja, absolut richtig. Wir dürfen nur nicht aufhören, wenn es ungemütlich wird.

Wenn die Themen und Schlagzeilen des vergangenen Monats eines gezeigt haben, dann dass das System nicht nur immer deutlicher ächzt und knarrt, sondern auch an immer mehr Stellen. Das heißt im Umkehrschluss, dass wir für Entlastung sorgen müssen. Digitalisierung ist hier definitiv ein gangbarer und wichtiger Weg. Allerdings eben auch nur dann, wenn an den Strukturen gearbeitet wird. Ein analoger Prozess, der digitalisiert wird, ist nicht automatisch besser oder effizienter – eben weil Digitalisierung kein Selbstzweck ist. Was wir also wirklich brauchen, ist eine Art Inventur, eine Bestandsaufnahme dessen, was gut funktioniert, noch viel wichtiger aber eine akribische Analyse der neuralgischen Punkte.

Und dann?

Denn nur mit dieser Bestandsaufnahme können echte Veränderungen angestoßen, Prozesse neu gedacht und Brücken überall dort gebaut werden, wo sie aus Sicht der Patientinnen und Patienten aber auch der Professionals gebraucht werden. Das heißt natürlich in erster Linie Silos genauso abzubauen, wie Grenzen. Interoperabilität wird zu einem der wirklich wichtigen Game Changer für echte Transformation werden.

Grenzen abbauen heißt in diesem Zusammenhang dann aber auch, dass Reformen sektorübergreifend konzipiert sein müssen – oder zumindest aufeinander aufbauen. Nach der Klinikreform brauchen wir also einer Versorgungsrefom, eine Vergütungsreform und vielleicht für die deutsche Rentenkasse auch eine Anstellungsreform. Ich denke, der Punkt wird deutlich: Wir müssen groß denken, wir müssen neu denken und wir müssen mutig denken. Vor allem aber müssen wir auch über die Themen sprechen, über die derzeit noch niemand so wirklich reden mag. An manchen Stellen kann es wehtun, wenn das Pflaster entfernt wird – aber nur für einen kurzen Moment. Immerhin: Nach der Krankenhausreform wird nun auch die Digitalreform konkret. Ob es hier gelingt, erste Grenzen zu überwinden, dürfte sich bereits am Donnerstag zeigen. Bei der elektronischen Patientenakte hat sich Lauterbach eher pragmatisch gegeben. Wir dürfen als gespannt sein – auch darauf, wie sich der Bundesdatenschutzbeauftragte zum Reformentwurf äußern wird. Bei der ePA hat er es ja „wieder“ getan.