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„Der Digitalisierungsgrad deutscher Kliniken ist schlechter als im restlichen Europa“

Der Bundesgesundheitsminister nennt die Kollegen des health innovation hubs liebevoll „seine Trüffelschweine“, weil sie Trends und Innovationen für das deutsche Gesundheitswesen aufspüren. Ecky Oesterhoff ist dort speziell für Kliniken und Krankenhäuser zuständig und ordnet das KHZG einmal in einen Gesamtkontext ein.

Herr Oesterhoff, vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie gehen die zahlreichen Gesetze von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn fast ein bisschen unter. Dabei hat er bereits viele auf den Weg gebracht, vor allem viele reine Digitalgesetze. Wie fügt sich das KHZG hier ein?

Hier muss ich ein wenig ausholen, da Jens Spahn in seiner bisherigen Amtszeit tatsächlich sehr viele Gesetze auf den Weg gebracht und wie Sie richtig sagen auch zahlreiche Digitalgesetze. Allerdings hat sich das Gros davon in der Vergangenheit mit der ambulanten Versorgung im Gesundheitswesen beschäftigt. Ziel war es, die Telematik-Infrastruktur in die Breite zu bekommen, also vor allem die niedergelassene Ärzteschaft mit ihren Praxen untereinander zu vernetzen. Denn das ist Grundvoraussetzung, damit Patientinnen und Patienten die elektronische Patientenakte, kurz ePA, überhaupt sinnvoll nutzen können. Das war mitunter ein recht zähes Unterfangen. Doch heute sind deutlich über 80 Prozent der Praxen an die Telematik-Infrastruktur angeschlossen. Und jetzt kommt mit KIM, Kommunikation im Medizinwesen, noch mal ein echter Game Changer. Damit können Ärzte aus ihrem Primärsystem heraus über einen sicheren Dienst Patientendaten elektronisch kommunizieren, der darüber hinaus gewährleistet, dass auf der jeweils anderen Seite auch tatsächlich ein Arzt oder Ärztin sitzt. Und es sind alle Niedergelassenen in Deutschland registriert. Insofern ein echtes Novum: Zukünftig kann jede Ärztin und jeder Arzt eine Kollegin oder einen Kollegen in einem übergreifenden Adressverzeichnis nicht nur finden, sondern mit ihr oder ihm auch direkt sicher digital kommunizieren.

Leitet das KHZG also die nächste logische Ausweitung der Digitalisierung im Gesundheitswesen ein?

Ganz genau. Wir haben in Deutschland ein sektoral geprägtes Gesundheitswesen, wie ich es sonst aus keinem anderen Land kenne. Und diese Sektoren kann man durchaus mit klar voneinander getrennten Silos vergleichen. Der Gesetzgeber schaut allerdings immer aus der Brille des Patienten und mit Blick auf seine Patient Journey und die kann durchaus zwischen verschiedenen Sektoren wandern – beispielsweise vom ambulanten in den stationären. Immer dabei: Die ePA der Patienten. Sie ist also die Konstante, die sich quer durch alle Silos zieht und das große Potential hat, diese damit aufzubrechen. Allerdings gibt es in den Krankenhäusern hier bislang noch einen Bruch. Sie können noch nicht mit der ePA arbeiten, sind jetzt erst dabei, sie zu etablieren. Wir wissen aber auch, dass der Digitalgrad in den Krankenhäusern aktuell in der Breite schlechter ist als in allen anderen europäischen Ländern, was uns natürlich nicht besonders gut zu Gesicht steht. Und genau um diese Lücken – der insgesamt schlechte Digitalisierungsgrad und die Anbindung der Kliniken an die ePA – zu schließen, wurde das KHZG konzipiert.

Dieser übergeordnete Nutzwert des KHZG klingt natürlich in der Theorie perfekt. Ist er aber auch in allen Klinken sofort greif- und spürbar?

Nicht zwangsläufig. Um den Nutzwert ernten zu können, müssen viele Häuser sicherlich erst einmal Dinge tun, die sich ihnen nicht sofort als nutzbringend erschließen. Ärzteschaft und Pflege müssen sich heute beispielsweise nicht permanent identifizieren. Gruppenkennungen an Stationscomputern sind Standard, über die dann Behandlungen und Pflegeleistungen dokumentiert werden. Zum Beispiel in einem Closed-Loop-Medication-Prozess geht das natürlich nicht mehr, weil es hierfür wichtig ist, zu wissen, wer wann welchen Prozess-Schritt ausgeführt hat. Oder wenn eine Ärztin in einer Klinik während der Behandlung künftig etwas in die ePA schreibt, muss sie sich immer authentifizieren. Die komplette Ärzteschaft muss deshalb künftig einen elektronischen Heilberufsausweis mit sich führen und die Häuser müssen die entsprechenden Lesegeräte dafür bereitstellen.
 

In der Digitalisierung solcher Prozesse steckt doch aber eine immense Chance.

Absolut, nur müssen dafür zunächst eben sämtliche Prozesse für die User neu gedacht werden. Und die müssen sich dann auch noch anders verhalten. Hier gilt es, ein wichtiges und großes Stück Kommunikationsarbeit in den Häuser zu erledigen. Nach dem Motto: Ihr macht hier jetzt was, das kostet euch vielleicht die ersten drei Monate Zeit und Energie, aber dann werdet ihr ernten. Das ist natürlich gerade für die Belegschaft hart, weil der Dokumentationsaufwand ohnehin groß und die IT veraltet ist. Und nun wird es im ersten Schritt noch einmal komplexer – bevor es dann einfacher wird. Denn dafür stehen die Chancen, meiner Meinung nach, besser denn je.

Sie sind im engen Kontakt mit zahlreichen Häusern und auch mit dem Marburger Bund. Glaubt die Ärzteschaft daran, dass das KHZG den Arbeitsalltag und die Versorgung verbessern kann?

Es muss zur Aufgabe der Klinikführung und der IT werden, die Ärzteschaft von digitalen Themen zu begeistern. Wir merken aus den Gesprächen aber auch, dass Ärzte Ärzten glauben. Niemand wird einfach digitalisiert. Man kann nicht einfach nur einmal der IT-Abteilung den Auftrag geben, ein Haus zu digitalisieren, und hoffen, dass es dann läuft. Digitalisierung ist immer dann erfolgreich, wenn diejenigen, die die Prozesse gut kennen, involviert werden und das auch nicht nur dienstags von 16 bis 17 Uhr in einem Digitalisierungsgremium oder indem man sich den oder die neue ärztliche/n Kolleg/in ausguckt. Digitalisierung ist immer Aufgabe des Managements und der wichtigsten Multiplikatoren.

Das heißt, die große Chance des KHZG besteht darin, nicht nur Förderung abzugreifen, sondern vor allem strategische Weichen zu stellen?

Ein ganz wichtiger Punkt. Viele Häuser kennen ihre potenzielle Förderhöhe bereits, bevor sie überhaupt einen Antrag stellen. Und dann beginnt das Reverse Engineering: Welche Projekte kann ich denn mit beispielsweise 9,4 Millionen umsetzen – um mal eine Hausnummer zu nennen. Das halte ich für gefährlich. Denn solche Projekte belasten eine Organisation schon in ihrer Entstehung. Besser ist es, eine übergeordnete Digitalstrategie zu haben und dann zu schauen, was zum Gesetz passt. So kann man dann die drei, vier Projekte angehen, die für das individuelle Haus zum jetzigen Zeitpunkt und vor dem Hintergrund des aktuellen Digitalisierungsgrades überhaupt sinnvoll sind. Wem es nur darum geht, Förderung abzugreifen oder die Pönale zu umgehen, der wird kaum erfolgreich sein.

Da stellt sich die Frage, wie viele Häuser in Deutschland überhaupt eine Digitalstrategie haben.

Sicherlich nicht alle und auch dafür ist das KHZG ausgelegt, denn nicht alle Fördertatbestände ziehen Strafen nach sich, wenn sie nicht umgesetzt werden. Mit dem KHZG wurden Prioritäten gesetzt, an denen sich kleinere Häuser orientieren können. Die Fördertatbestände des KHZG können für sie zur Digitalstrategie werden.

Wie steht es mit dem digitalen healthcare Markt, kann der das Auftragsvolumen überhaupt schaffen?

Der Healthcare-IT-Markt in Deutschland setzt aktuell ungefähr 1,3 Milliarden Euro im Jahr um. Und in dieses System fließen jetzt 4,3 Milliarden obendrauf, die es in den kommenden drei Jahren zu „veratmen“ gilt. Das muss der Markt erst mal schaffen und es überlastet an einigen Stellen sicherlich auch das Gesamtsystem. Das heißt, dass weitere Innovationen über das KHZG hinaus schwer zu haben sein werden. Die Hersteller sehen zu, dass sie KHZG-förderfähige Lösungen etablieren, die sich einfach ausrollen und skalieren lassen. Kleinere Häuser sind deshalb gut beraten, sich entweder einen Partner, beispielsweise ein größeres Klinikum in der Nähe, zu suchen, an das sie sich andocken können, oder aber auf Software „von der Stange“ zurückzugreifen. Dem wohnt allerdings auch ein gewisser Charme inne: Sehr viele Häuser bekommen so funktional gut gemachte Software aus den Themenbereichen des KHZG. Und allein dadurch kommen wir in den neun rein digitalen Fördertatbeständen des KHZG gemeinsam auf ein neues, aber eben auch vergleichbares Level.