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Das Offensichtliche sollte uns nicht (mehr) überraschen

Niemand würde mit 180 km/h auf ein Stauende zu rasen und sich dann wundern, dass es kracht. Warum erkennen wir Risiken und Gefahren in anderen Bereichen dann nicht? Auch hier heißt es: Augen auf und Handeln!

Forscher warnen seit Jahren vor den Folgen des Klimawandels. Und genauso lange nehmen wir Menschen und auch die Verantwortlichen in der Politik diese Warnungen wahr, handeln jedoch nicht entsprechend. Wenn dann halb Südeuropa in Flammen aufgeht oder die Binnenschifffahrt auf Rhein oder Elbe trockenfällt, ist der Aufschrei groß – vor allem, weil wieder Lieferketten und damit Industrie und Wirtschaft empfindlich getroffen werden, weniger wegen des Klimawandels. Aber wer hätte das auch ahnen können? Normalisieren sich die Wasserstände wieder, ist oftmals auch die Empörung vergessen.

Ein ähnliches Verhalten ist gerade im Gesundheitswesen zu beobachten. Auch da war die Überraschung vermeintlich groß, als Amazon mit der Übernahme von One Medical in den USA nun endgültig seinen Fuß in die Tür des Gesundheitswesens gesetzt hat. „Branchenmitglieder sind bereits alarmiert“, schrieb das Handelsblatt, und weiter „mit einem Marktstart in Europa und Deutschland rechnen Brancheninsider sicher“. 

Wer Daten versteht, braucht keine Branchenkenntnis

Man muss wirklich kein „Brancheninsider“ sein, um diese „kühne“ Voraussage zu treffen. Im Gegenteil, ich habe schon vor zwei Jahren gefragt, ob wir Amazon wirklich unsere Gesundheitsdaten überlassen wollen. Amazon versteht es wie kein zweites Unternehmen, aus unseren Daten, unserem Verhalten Profit zu schlagen. Das Gesundheitswesen ist da keine Ausnahme. Im Gegenteil: Vermutlich wird den Patientinnen und Patienten noch auf dem Nachhauseweg aus einer One Medical Klinik das entsprechende Bluthochdruckmittel in der Amazon Pharmacy ebenso angezeigt wie der Heimtrainer. Wie heißt es so schön, andere Kunden mit ihrer chronischen Vorgeschichte kauften auch…

Ich möchte in diesem Kommentar aber weder über Amazon philosophieren, noch meine bereits vor zwei Jahren gemachten Beobachtungen wiederholen oder mich gar am Aufschrei der „Branchenmitglieder“ beteiligen. Ich möchte Mut machen, eine Vision teilen und zeigen, dass wir den US-Tech-Riesen noch immer nicht das Feld überlassen müssen. Für das Gesundheitswesen ist es noch nicht zu spät – für unseren Planten mag ich das gerade nicht beurteilen.

Empörung bringt niemanden weiter, Handeln schon

Was mich besonders an der Empörung stört, die einem gerade an so vielen Stellen entgegenschwappt: Sie verpufft. Denn grundsätzlich ist eine solche, von starken Emotionen begleitete Reaktion etwas Positives – wenn sie denn im Handeln, in einem Aufstand oder einer Rebellion mündet. Also liebe „Branchenmitglieder in Alarmbereitschaft“, lasst uns aus dieser Empörung etwas machen.

Wer nicht weiß, wo wir starten können: Meiner Meinung nach bei einer europäischen Cloud-Lösung für das Gesundheitswesen. Denn anstatt darüber zu diskutieren, wo Sicherheitsstandards höher sind, lokal gespeichert oder in der Cloud, könnten wir einfach eine europäische Lösung bauen, die unseren Standards entspricht.

Denn wenn wir ganz ehrlich sind, wissen wir, dass die Zukunft des Gesundheitswesens ohne Cloud nicht funktioniert. Nicht einmal eine elektronische Patientenakte kann es ohne Cloud geben. Dennoch diskutieren wir über das Für und Wider anstatt über das Wie. Wir wissen doch auch um die Gefahren im Straßenverkehr und steigen dennoch ins Auto, weil wir entsprechende Sicherheitsvorkehrungen getroffen haben – und zwar werkseitig. Kein Automobilhersteller würde einen Pkw verkaufen und dem Käufer dann zurufen „übrigens, vergessen Sie nicht den Airbag zu montieren und die Bremsleitung anzuschließen, bevor Sie losfahren“. Also bauen wir uns doch die Datencloud für das Gesundheitswesen nach unseren (Sicherheits)Vorstellungen. Denn das wäre auch ein deutliches Zeichen in Richtung Tech-Riesen.

Kollaboration gefragt

Was ein solches Cloud-Projekt allerdings auch zeigt: Niemand wird es ganz allein schaffen. Wir brauchen Kollaboration, wir brauchen kluge Köpfe, die ihre Kompetenzen bündeln, und wir brauchen eine länderübergreifende, möglichst europaweite Zusammenarbeit, um dem starken Wettbewerb aus den USA und Asien etwas entgegensetzen zu können. Hier sehe ich aktuell noch eine große Hürde, weil schlicht und ergreifend noch sehr viel „Aufregung“ im Markt steckt. Ein bisschen wie die Goldgräberstimmung im „Wilden Westen“. Aber mit dem heutigen Abstand betrachtet, würde vermutlich kaum jemand Haus und Hof verkaufen und sich auf Nugget-Suche machen. Es wäre deutlich schlauer, die Goldgräber mit Schaufeln, Schuhen und allen anderen Utensilien zu versorgen – und ein schneller Weg zum Wohlstand wäre es vermutlich auch. 

Was ich damit sagen will: Wir machen mit Digitalisierungsprojekten im Gesundheitswesen gerade sehr viele Erfahrungen, lassen Sie uns diese Erfahrungen bündeln und Best Practices, Best Solutions, Best Collaborations daraus entwickeln. Wenn jeder den Teil zum System beiträgt, in dem er oder sie herausragend ist, wird es das System werden – und Branchenfremde wie Amazon müssten sich ebenfalls an diese, von uns definierten Spielregeln halten. Was meinen Sie?

Die positive Nachricht ist, es gibt erste zaghafte Tendenzen, das Gesundheitssystem weiterzudenken. Einige große Kliniken entwickeln langfristige Strategien und Leitbilder, was Gesundheitsversorgung von morgen bedeuten kann und soll. Darüber müssen wir diskutieren. Wir müssen zu Status-Quo-Veränderern werden – ansonsten verändern andere wie Amazon den Status Quo. Und egal, ob es uns gefällt oder nicht, wir gucken dann nur noch zu und müssen unseren Kindern unter Umständen in zehn Jahren erklären, warum wir es als Entscheider nicht haben kommen sehen oder nicht haben handeln wollen. Die Frage lautet also: Müssen wir uns gegenüber der nächsten Generation rechtfertigen oder können wir davon berichten, wie wir gemeinsam eine Vision haben Wirklichkeit werden lassen. Wie gesagt, noch haben wir es in der Hand.