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„Da ist ziemlich viel Musik drin“

Dieser Satz aus dem Finanzsprech passt aktuell auf kaum eine Branche besser als auf den Gesundheitssektor. Immer mehr Investoren und auch branchenfremde Unternehmen erkennen ihr Marktpotenzial – vor allem auch das von Digital Health. Die Investitionssummen stehen dabei für den Reifengrad, den die Branche mittlerweile erreicht hat.

Wenn Analysten oder Finanzexperten von „Musik“ sprechen, die in einem Unternehmen oder einer Branche steckt, meinen sie in der Regel Potenzial und Kursfantasien. Denn überall dort, wo Investoren Zukunftschancen sehen – private und professionelle Anleger gleichermaßen –, wird investiert. Und auch der Reifegrad einer Branche lässt sich an diesen Investitionsströmen ablesen. Zwar träumen die meisten Investoren davon, schon ganz früh beim nächsten großen Coup dabei zu sein. Das Risiko, das eine Idee doch nicht so einschlägt oder umsetzbar ist, wie gehofft, ist den meisten dann aber doch zu hoch. Deshalb engagieren sich in frühen Entwicklungsstadien meist nur einige wenige, meist professionelle Investoren in einer Branche. Erst mit zunehmender Professionalisierung wagen sich mehr Anleger aus der Deckung. Das heißt im Umkehrschluss: Je mehr Kapital in Richtung eines Unternehmens oder einer Branche fließt, desto etablierter sind beide.

Wenn wir also jetzt hier und heute, dem Kapital folgen, lassen sich einige interessante Schlussfolgerungen für die Digital Healthcare Branche ziehen. Starten wir mit einem Blick über den Atlantik, wo Digital Health schon deutlich etablierter ist als hierzulande und entsprechend andere Perspektiven für Investoren bietet. Der auf Healthcare-Investitionen spezialisierte Vermögensverwalter Bellevue Asset Management ist in einem aktuellen Marktkommentar beispielsweise davon überzeugt, dass die Vorzeichen in diesem Jahr gut stünden. Vor allem das Engagement großer Healthcare-Unternehmen bei disruptiven, schnell wachsenden Digital Health Anbietern sieht man dort positiv. Bestes Beispiel: Stryker, einer der Weltmarktführer in der Medizintechnik, hat im Februar diesen Jahres das in den USA führende Unternehmen für Kommunikationssoftware und -hardware für Krankenhäuser übernommen. Vor allem die Innovationskraft von Vocera und die komplementären Produkte hätten überzeugt, betont Stryker CEO Kevin Lobo: „Die Übernahmen bietet signifikante Chancen, Innovationen voranzutreiben und unsere digitalen Bestrebungen weiter zu beschleunigen.“ Man heiße Vocera herzlich willkommen und freue sich auf die Zusammenarbeit, um Patientinnen und Patienten künftig eine sichere Versorgung bieten zu können. Auch die Übernahme von Cerner durch Oracle zum Jahreswechsel dürfte ein größeres Interesse am Gesundheitswesen nach sich ziehen. 28,3 Milliarden US-Dollar hat Oracle sich das Engagement kosten lassen – die bisher größte Übernahme der Firmengeschichte und mit dem Gesundheitssektor ausgerechnet „branchenfremd“. 

Aber auch in Europa findet man sich auf spannenden Spuren wieder, wenn man dem Geld in Richtung Gesundheitswesen folgt. Zugegeben, der Gedanke, sich einen Arzt per Uber-App zu bestellen, mag sich zunächst völlig suspekt anhören. Bei genauerer Betrachtung ist es aber gar nicht so unklug, nach Uber Eats den „Lieferservice“ auf weitere Bereiche des täglichen Bedarfs zu übertragen. Einen ersten Piloten startet Uber gerade in Portugal. Laut berichten der Portugal News sollen Kunden sich sowohl einen Gesundheitsexperten direkt nach Hause bestellen oder aber über Telefon und Video eine Konsultation buchen können. Für den neuen Service kooperiert Uber mit der in Lissabon ansässigen Ecco Salva Medical Services, die von medizinischer Unterstützung, über Tele- und Arbeitsmedizin, bis hin zu Patiententransporten einige Services anbieten. Und wer glaubt, das seien Ubers erste Schritte im Gesundheitssektor, der irrt. Die Bekanntgabe einer Partnerschaft mit ScriptDrop, einem Lieferservice für Medikamente, Anfang letzten Jahres ist nur ein Beispiel, welches Potenzial die Geschäftsführung offensichtlich im Gesundheitswesen sieht.

Wenn es das Kapital dermaßen stringent in Richtung Gesundheitswesen zieht, wagen sich auch hierzulande erste Unternehmen in Richtung Kapitalmarkt zu öffnen. Vorhang auf für Noventi. Erst wurde Deutschlands größter Anbieter für Warenwirtschaftssysteme – immerhin mit mittlerweile 27 Tochtergesellschaften und Beteiligungen – zu einer europäischen Aktiengesellschaft, SE, umgewandelt. Nun will man über Genussscheine bis zu 80 Millionen Euro einsammeln. Hierbei handelt es sich um ein Wertpapier, das sowohl Charakteristika von Anleihen als auch von Aktien aufweist. Der Vorteil für das emittierende Unternehmen: Der Spielraum für die Ausgestaltung eines solchen Wertpapiers ist immens, kaum reguliert, man vermeidet, sich Finanzinvestoren direkt ins Haus zu holen oder Stimmrechte zu gewähren. Noventi will mit dem eingesammelten Kapital vor allem den Finanzierungsbedarf der Gruppe decken. Denn die „Einkäufe“ der Vergangenheit haben finanzielle Spuren hinterlassen, die es nun mit frischem Kapital auszugleichen gilt, wie das Magazin Apotheke Adhoc in einem Bericht analysiert.

Was die drei Beispiele gemeinsam haben: Wer dem Geld folgt, trifft dieser Tage immer häufiger auf dem Gesundheitssektor und im Speziellen auf die Digital Healthcare Branche. Viele der dortigen Pioniere befinden sich noch in frühen Finanzierungsphasen, aber selbst zeitnahe Börsengänge sind nicht komplett auszuschließen. Wer also dem Geld folgt, kann nicht von der Hand weisen, dass Digital Health mittlerweile in vielen Bereichen an Reife gewinnt. Und mit den Fördergeldern des KHZG fließen in den nächsten Jahren auch aus anderer Richtung Milliarden in den Sektor. Wenn das keine Argumente dafür sind, dass wir 2022 das Jahr der Digital Health Branche eingeleitet haben – oder besser das Jahrzehnt?