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„An dem Punkt, Informationen ungehindert fließen zu lassen, sind wir in Deutschland noch nicht“

Er war fast 13 Jahre bei der gematik, der deutschen „Digital Health Agency“, und ist nun als strategischer Berater tätig. Entsprechend schaut Mark Langguth noch einmal aus einer ganz anderen, eher indirekten Perspektive auf das KHZG – und bringt damit eine neue Sicht auf die Förderung als sie die bisherigen Gesprächspartner der Interviewreihe hatten.

Herr Langguth, lassen Sie uns direkt mit einer Zukunftsversion in das Gespräch starten: Im Fokus des KHZG stehen Patient:innen, die sich künftig durchgängig durch die verschiedenen Sektoren des Gesundheitswesens bewegen können sollen. Lässt sich so tatsächlich ein Mehrwert für das gesamte System generieren?

Digitalisierung und Vernetzung sollen ganz grundsätzlich und unabhängig vom KHZG dafür sorgen, dass ich als Patient einen leichteren Zugang zu meinen Daten, Ansprechpartnern, aber auch zu administrativen Prozessen erhalte, die bisher papiergebunden stattfinden und für mich als Patient deshalb vielleicht schwieriger zu verstehen sind. Konkret heißt das: Über Digitalisierung können Nutzerinnen und Nutzer auf ihrem aktuellen Informationsstand und in ihrer Sprachwelt abgeholt werden, was bislang auf Papier in diesem Umfang nicht problemlos möglich war. Entsprechend kann über Digitalisierung viel leichter Transparenz für Patientinnen und Patienten hergestellt werden. Als Patient bekomme ich so beispielsweise ohne größere Umstände die Möglichkeit, Einblick in das zu nehmen, was über mich als Patient erfasst wurde. Was dokumentieren Ärzteschaft und Pflege? Wie sehen meine Vitaldaten aus? Was wurde verordnet – gestern und vor einem Jahr? Wie korrelieren diese Werte? Gleichzeitig kann ich mich als Patient viel leichter selbst aktiv, etwa über dokumentierte Eigenbeobachtungen, in meine medizinische Versorgung einbringen. Digitalisierung informiert und befähigt im Idealfall Patientinnen und Patienten also und daraus ergibt sich meiner Ansicht nach ein deutlicher Mehrwert für das gesamte System.

Wäre diese Befähigung der Patienten nicht auch auf Papier möglich – zumindest theoretisch?

Verbunden mit einem erheblichen Mehraufwand sicherlich. Das Schöne an der Digitalisierung sind ja die Daten, die gewonnen und strukturiert weiterverarbeitet den schon beschriebenen Mehrwert schaffen können. Einfaches Beispiel: der Arztbrief. Der ist von Ärzten für Ärzte geschrieben. Als Patient brauche ich einen Übersetzer, um die Inhalte zu verstehen. Wenn die zugrundeliegenden Daten dieses Arztbriefes jedoch strukturiert erfasst wurden, kann dem empfangenden Arzt am Ende auf Wunsch, wie gewohnt ein Fließtext zum Lesen angeboten werden. Ich kann aus denselben strukturierten Daten jedoch auch einen Schriftsatz generieren, den Patienten verstehen – und zwar automatisch. Und genau hier fängt eine ganzheitliche Digitalisierung an zu wirken. Das erhöht die Transparenz, das Verständnis und auf dieser Basis auch die Chance auf eine höhere Adhärenz.

Welche Voraussetzungen müssen Ihrer Meinung nach geschaffen werden, damit Digitalisierung so wirken kann?

Dafür müssten Prozesse idealerweise durchgängig digital gedacht werden. Heute haben wir ja leider noch oft eher eine Elektrifizierung analoger Prozesse. Dies betrifft auch die Einbeziehung der Patientinnen und Patienten. Was das bereits mit vergleichsweise einfachen Mitteln bewirken kann, sieht man in den USA sehr schön an Open Notes. Dort macht die teilnehmende Ärzteschaft ihre Behandlungsnotizen ihren Patientinnen und Patienten zugänglich. Ohne Veränderungen, genau das, was notiert wird. Und das hat nicht nur die Transparenz für die Patienten erhöht, sondern die Beziehung zwischen Ärzteschaft und ihren Patienten auf ein ganz neues und noch vertrauensvolleres Niveau gehoben. Gleichzeitig spielen die Patienten in der Fortentwicklung von OurNotes selbst erhobene Befundungen und Fragen zurück in die Systeme ihrer Ärzte, die dadurch von einer besseren Zusammenarbeit mit den Patienten und einer vereinfachten Behandlung sprechen. Ein insgesamt besseres Verständnis über den eigenen Gesundheitszustand zusammen mit der Möglichkeit sich aktiv einzubringen zahlt also auch positiv auf die Genesung ein. An dem Punkt, Informationen ungehindert fließen zu lassen, sind wir in Deutschland noch nicht. Aber das KHZG zielt mit seinen Muss- und Kann-Kriterien schon ein Stück in diese Richtung.

Wenn wir über einen durchlässigen Informationsfluss sprechen, reicht das KHZG vermutlich nicht aus. Wie kann eine solche Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Sektoren des Gesundheitswesens gelingen?

Für einen patientenzentrierten, einrichtungs- und sektorübergreifenden Informationsfluss gibt es tatsächlich einen wesentlichen Lösungsanteil, die elektronische Patientenakte, kurz ePA. Formal gibt es diese zwar schon seit Anfang des Jahres, aber Arztpraxen müssen zwingend erst ab dem 1. Juli angebunden werden, Kliniken erst ab dem 1. Januar 2022. Erst dann kann die ePA als Informationsdrehscheibe unter der Einsicht und Kontrolle des Patienten ihre großen Vorteile ausspielen. Ich bin überzeugt, dass es viele Patientengruppen gibt, die von diesem übergreifenden Informationsspeicher profitieren – mit minimalem Aufwand für Patienten, Ärzte- und Zahnärzteschaft, Apotheken und Pflege sowie perspektivisch alle weiteren an der Versorgung des Patienten beteiligten Berufsgruppen. Daher appelliere ich an die Leistungserbringer, möglichst viele Patientinnen und Patienten in deren Sinne dazu zu raten, ein ePA-Konto bei ihrer Krankenkasse zu eröffnen und dadurch die Patienteninformationen im Patientensinne fließen zu lassen. Denn die Nutzung für Leistungserbringer ist einfach, deren Informationsgewinn deutlich. Und gleichzeitig können Patientinnen sehr einfach auch ohne IT-Kenntnisse ihre Datensouveränität wahrnehmen und steuern, welche Einrichtung wie lange auf welche Daten in ihrer ePA zugreifen können sollen und welche nicht. Das war uns bei der Konzeption sehr wichtig: Jeder, der eine EC-Karte nutzen kann, kann auch die Zugriffe auf seine ePA steuern.

Soll denn dann alles über die ePA laufen?

Nein, natürlich nicht. In der Versorgung gibt es viele direkten Kommunikationsbeziehungen, die unter der Kontrolle der Leistungserbringern bleiben müssen. Denken Sie beispielsweise an die Überweisung mit dem Arztbrief als Antwort oder den Laborauftrag mit dem Laborbefunden über die Resultate. Diese müssen den Arzt direkt erreichen. Kopien davon können – und sollen idealerweise – auch in die ePA. Aber zuerst muss es direkt laufen. Hier kommt, auch gemäß KHZG, die sichere Kommunikation im Medizinwesen, kurz KIM, zum Einsatz.

Ist dann mit ePA und KIM alles gut?

Sie bewegen schon einmal viel in die richtige Richtung beziehungsweise ermöglichen sie vieles. Aber tatsächlich ist das gesamte System noch zu starr und gesetzlich viel zu stark limitiert. Um echte durchgängige Prozesse ermöglichen zu können, müssen sich die gesetzlich regulierten Systeme – insbesondere auch die ePA – deutlich öffnen. Wir brauchen eine ePA, die als offene Plattform unter der Kontrolle des Patienten jede Anwendung akzeptiert, die der Patient im Zugriff und zur Interaktion mit seiner ePA haben möchte. Ein komplettes Ökosystem mit der ePA als Basis sollte entstehen. Mit dem mündigen Bürger als Souverän, der über die Datenflüsse und Anbindungen entscheiden kann. Mit einer solchen ePA-Plattform könnte patientenzentrierte Digitalisierung tatsächlich vollumfänglich möglich werden.